Die Situation in Afghanistan ist erschütternd
Die aktuelle Situation in Afghanistan ist erschütternd, das Ausmaß der dramatischen Situation erschreckend. Für kaum ein anderes Land hat Deutschland in den vergangenen zwei Jahrzehnten so große Verantwortung übernommen – militärisch, diplomatisch und entwicklungspolitisch. Mit dem Beginn von Gesprächen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban wuchs die Hoffnung, dass der Weg zu einem Frieden zwar lang, aber gangbar sein würde. Als am 14. April 2021 in der gemeinsamen Entscheidung der NATO beschlossen wurde, den militärischen Einsatz in Afghanistan zu beenden, waren wir davon überzeugt, dass die afghanische Nationalarmee dem Druck der Taliban standhalten könnte. Niemand in der internationalen Gemeinschaft hat damit gerechnet, dass Kabul kampflos fallen würde. Heute wissen wir: Unsere Lageeinschätzung war falsch, unsere Annahmen über die Fähigkeit und die Bereitschaft zum afghanischen Widerstand zu optimistisch.
Über 5200 Menschen evakuiert
Die Bundeswehr hat in der Nacht vom 16. auf den 17. August den Evakuierungseinsatz begonnen. Bis zum aktuellen Zeitpunkt konnten mehr als 5.200 Menschen evakuiert werden, darunter 529 Staatsbürgerinnen und -bürger sowie über 4.300 Afghaninnen und Afghanen. Andere Staaten verzeichnen ähnliche Zahlen. Deutschland konnte als einer der ersten Nationen seine Kräfte nach Kabul verlegen und so schnellstmöglich eine stabile Luftbrücke zwischen Kabul und Taschkent in Usbekistan einrichten.
Als Abgeordneter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion plädiere ich dafür, dass Deutschland sich auch in den kommenden Wochen einsetzt, so viele gefährdete Personen wie möglich in Sicherheit zu bringen. Mit dem Ende des militärischen Evakuierungseinsatzes darf unser Engagement nicht enden. So müssen schnelle und unbürokratische Wege gefunden werden, um Menschen in Afghanistan ein potenzielles Visumverfahren in Aussicht zu stellen. Auf der einen Seite müssen die Verhandlungen mit den Taliban direkt erfolgen, auf der anderen Seite müssen auch die Visa- und Konsularstellen sowie das Krisenreaktionsteam in den Nachbarländern Afghanistans verstärkt werden.
Diplomatische Bemühungen verstärken
Die Bundesregierung prüft unter Hochdruck, unter welchen Umständen die Einsätze weitergeführt werden können – hier gilt es jedoch unter allen Umständen die aktuelle Sicherheitslage zu beachten. Die Attentate untermauern die Forderung nach einem vorsichtigen und strategischen Vorgehen. Auch direkte Verhandlungen mit den Taliban müssen erfolgen, um beispielsweise eine fortführende zivile Evakuierungsmission zu ermöglichen und in Kooperation mit den Nachbarländern Afghanistans weitere Menschen retten zu können. Deutschland hat bereits 100 Millionen Euro humanitäre Soforthilfe für Geflüchtete in und aus Afghanistan zur Verfügung gestellt – weitere 500 Millionen Euro sind eingeplant. Internationale Hilfsorganisationen müssen dringend gestärkt werden, um schwere humanitäre Katastrophen in der Region zu vermeiden.
Eine weitere politische Aufarbeitung des Einsatzes in Afghanistan und der Geschehnisse der letzten Wochen wird erfolgen. Dafür muss im Parlament eine breite sachliche Debatte, auch über die Rolle der Bundesrepublik Deutschland sowie der Europäischen Union in der Weltpolitik, geführt werden. All diese Themen treiben mich persönlich, meine Kolleginnen und Kollegen sowie viele in unserem Land um; eine ehrliche und wegweisende Debatte scheint für mich daher in naher Zukunft als unvermeidbar und absolut notwendig.
Das letzte Wort über unser langes Engagement in Afghanistan wird erst in der Zukunft gesprochen, wenn alle langfristigen Auswirkungen sichtbar sind. Schon heute spreche ich den Soldatinnen und Soldaten meinen Respekt und Dank aus, die mit dieser schwierigen und gefährlichen Aufgabe der Evakuierung aus Kabul betraut sind, und ebenso allen Soldatinnen und Soldaten, Ortskräften und zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Organisationen, die am Einsatz in Afghanistan beteiligt waren. Denn bei aller Diskussion um die Mission im Allgemeinen, dürfen wir nicht außer Acht lassen, welches Risiko diese Männer und Frauen für Sicherheit, Frieden, Humanität und Entwicklung täglich eingehen. Selbstverständlich sind meine Gedanken auch bei den Familien, die einen oder gar mehrere Angehörige bei den Anschlägen verloren haben. Diesen sinnlosen Akt der Gewalt verurteile ich.
Erich Irlstorfer, MdB